Rückschau auf die Entwicklungen im Arbeitsrecht im Jahr 2023

 

Das Jahr 2023 brachte einige praxisrelevante arbeitsrechtliche Entwicklungen mit sich.

1 Gesetzliche Entwicklungen

Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene wurden für die arbeitsrechtliche Praxis relevante Regelungen erlassen.

1.1 Entgelttransparenz-Richtlinie

Am 06.06.2023 trat die Entgelttransparenz-Richtlinie (EntgTransp-RL) in Kraft, welche binnen drei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden muss. Die Richtlinie geht über das bereits 2017 in Kraft getretene EntgTranspG hinaus und soll bestehende geschlechtsbezogene Verdienstunterschiede durch mehr Transparenz überwinden.

Stellenbewerber sollen zukünftig vom Anwendungsbereich umfasst werden und die Informations- und Auskunftsansprüche werden ausgeweitet. So sieht die Richtlinie im Gegensatz zu dem EntgTranspG Auskunftsansprüche unabhängig von der Zahl der Beschäftigten und der Größe der Vergleichsgruppe vor (Art. 7 EntgTransp-RL). Darüber hinaus soll nunmehr das Durchschnittseinkommen Gegenstand der Auskunft sein. Außerdem müssen Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten zukünftig über geschlechterspezifische Lohngefälle berichten; der Turnus der Berichterstattung soll sich dabei nach der Anzahl der Beschäftigten (Art. 9 EntgTransp-RL) richten. Weiterhin sollen solche Arbeitgeber, sollten sie geschlechterspezifische Entgeltunterschiede nicht rechtfertigen können, eine Entgeltbewertung gemeinsam mit den Arbeitnehmervertretungen vornehmen (Art. 10 EntgTransp-RL).

Prozessual sollen auch Interessenverbände Gerichts- und Verwaltungsverfahren im Namen der Betroffenen Arbeitnehmer führen dürfen. Zudem wird die Rechtsdurchsetzung durch eine Beweislastumkehr erleichtert (Art. 15 EntgTransp-RL). Eine weitere Neuerung ist die Einführung abschreckender Sanktionen. Ausdrücklich erwähnt sind hier insbesondere Geldbußen (Art. 23 EntgTransp-RL).

1.2 Hinweisgeberschutzgesetz

Nach mehreren Anläufen, einem blauen Brief aus Brüssel, einer Zustimmungsverweigerung durch den Bundesrat und der Anrufung des Vermittlungsausschusses trat am 02.07.2023 – über eineinhalb Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist der EU-Richtlinie – das Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) in Kraft. Grund für die Verzögerung waren zahlreiche parteipolitische Differenzen. Letztlich wurden viele Regelungen abgeschwächt. Statt der ursprünglich anvisierten 100.000 Euro Strafe für das Behindern von Meldungen, das Ergreifen von Repressalien oder Verstöße gegen das Vertraulichkeitsgebot, sind es nunmehr nur 50.000 Euro. Auch die an interne und externe Meldestellen adressierte Pflicht zur Ermöglichung anonymer Meldungen wurde verworfen (§§ 16 Abs. 1 S. 6, 27 Abs. 1 S. 6 HinSchG).

1.3 Arbeitszeitgesetz

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat ein „Gesetz zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes und anderer Vorschriften“ (ArbZG-E) entworfen, welches zwar bereits an die Öffentlichkeit gelangt ist, es bislang jedoch noch nicht einmal durch den internen Abstimmungsprozess geschafft hat.

Hauptpunkt des Entwurfs ist die Änderung des § 16 ArbZG. Nach dieser derzeit geplanten Änderung müssten Arbeitgeber zukünftig unabhängig von einer Überschreitung der werktäglichen Arbeitszeit, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzeichnen und diese Nachweise mindestens zwei Jahre aufbewahren. Die Aufzeichnung soll auch durch einen Dritten erfolgen können und der Arbeitgeber, soweit er auf die Kontrolle der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verzichtet, soll durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass er Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten wahrnimmt. Abweichungen von diesen Regelungen sollen ausschließlich aufgrund eines Tarifvertrags möglich sein.

Es bleibt abzuwarten, inwiefern der ArbZG-E noch modifiziert wird.

Rechtsprechung

Sowohl das BAG als auch der EuGH haben im Jahr 2023 zu grundlegenden Rechtsfragen Stellung bezogen.

2.1 Entgeltgleichheit

Ein Urteil des BAG vom 16.02.2023 (8 AZR 450/21) zur Entgeltbenachteiligung wegen des Geschlechts schlug hohe Wellen. Die Klägerin erhielt 1.000 € weniger Bruttolohn als ihr männlicher Kollege auf einer vergleichbaren Position. Der Arbeitgeber führte als Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung das individuelle Verhandlungsgeschick des männlichen Bewerbers an. Nach Auffassung des BAG reichte der Verweis auf das individuelle Verhandlungsgeschickt jedoch nicht, um die Vermutung des § 22 AGG, und damit eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts, zu widerlegen.

Die Entscheidung erntete in der Literatur Kritik. Das Gericht ging insbesondere nicht auf die Tatsache ein, dass der Arbeitgeber zunächst beiden Arbeitnehmern dasselbe Vertragsangebot unterbreitete, allein die weibliche Bewerberin jedoch nicht nachverhandelte. Der Negativanreiz einer Diskriminierung ging damit nicht von der Beklagten, sondern vom Bewerber aus.

Auch nach der Entscheidung des BAG verbleiben jedoch Möglichkeiten, eine in Frage stehende Ungleichbehandlung wegen einer geschlechterbezogenen Entgeltbenachteiligung wirksam zu rechtfertigen. Das BAG verweist beispielsweise explizit auf die Rechtfertigungsgründe einer besseren Qualifikation, längeren Berufserfahrung oder Lage am Arbeitsmarkt. Für die Praxis ist es ratsam, den Einstellungsprozess zu dokumentieren, um die Motive, die zum sog. „gender pay gap“ führen, dem Beweis zugänglich zu machen, um die Vermutung des § 22 AGG wirksam widerlegen zu können.

2.2 Kündigungsschutzrecht

In einem Urteil des EuGH vom 13.7.2023 (C-134/22) zur sog. Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (ME-RL) stellte der Gerichtshof klar, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht zur Unwirksamkeit einer Kündigung führt.

§ 17 Abs. 3 S. 1 KSchG verlangt grundsätzlich, dass der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat übermittelt wird. Er basiert auf Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 ME-RL, der laut EuGH jedoch gerade keinen Individualschutz gewährt, sondern lediglich den Informationsfluss an die Behörden sicherstellen soll.

Es zeichnet sich hier ein begrüßenswerter Trend aus der Rechtsprechung ab, wonach nicht jeder Verstoß gegen die Vorgaben der ME-RL zur Unwirksamkeit von Kündigungen führt, sondern nur, wenn die betroffene Vorschrift individualschützenden Charakter hat und gerade für diesen konkreten Verstoß die Unwirksamkeit als verhältnismäßige Sanktion europarechtlich geboten ist.

Das BAG beschäftigte sich in seinem Urteil vom 08.12.2022 (6 AZR 31/22) mit der Problematik der Berücksichtigung der Rentennähe bei der Sozialauswahl. Laut BAG weise das Auswahlkriterium „Lebensalter“ einen ambivalenten Charakter auf. Die soziale Schutzbedürftigkeit nehme zum einen mit steigendem Alter aufgrund verminderter Vermittlungschancen am Arbeitsmarkt zu, zum anderen nehme sie jedoch ab, wenn der Arbeitnehmer spätestens in zwei Jahren nach Ende des Arbeitsverhältnisses eine abschlagsfreie Rente wegen des Alters beziehen könne und so versorgungsrechtlich zeitnah abgesichert wäre.

Weiterhin nahm das BAG (2 AZR 17/23) im Fall einer außerordentlichen Kündigung wegen beleidigender und menschenverachtender Äußerungen über u.a. Vorgesetzte und andere Kollegen in einer Chatgruppe zu dem Verhältnis zwischen dem Interesse des Arbeitgebers an der Kündigung mit dem Interesse des Arbeitnehmers an der Vertraulichkeit der Aussagen Stellung. Das BAG begrenzt die Vertraulichkeitserwartung des Mitarbeiters auf Fälle, in denen die Mitglieder der Chatgruppe den besonderen persönlichkeitsrechtlichen Schutz einer Sphäre vertraulicher Kommunikation in Anspruch nehmen können. Als relevante Faktoren für diese Einschätzung werden Inhalt der Nachrichten, Größe und personelle Zusammensetzung der Chatgruppe herangezogen. Bei beleidigenden und menschenverachtenden Äußerungen über Betriebsangehörige seien dabei strenge Anforderungen an die Darlegung der Vertraulichkeitserwartung zu stellen.

2.3 Verjährung des Urlaubsanspruchs

Ende 2022 stellte das BAG (9 AZR 245/19) fest, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich den allgemeinen Verjährungsregeln nach §§ 194 ff. BGB unterliegt. Bei unionsrechtskonformer Auslegung der §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG sei jedoch ein „anderer Verjährungsbeginn“ i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB erforderlich, soweit der Anspruch des Arbeitnehmers auf den unionsrechtlich garantierten Mindesturlaub in Rede stehe. Entsprechend beginne die Verjährung erst, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten bei der tatsächlichen Gewährung von Urlaub nachgekommen sei, also er den Arbeitnehmer über den Umfang des noch bestehenden Urlaubs informiere, ihn auf die für die Urlaubsnahme maßgebenden Fristen hinweise und ihn auffordere, den Urlaub zu nehmen.

Am gleichen Tag entschied das BAG in einem weiteren Fall über das zeitliche Schicksal des Urlaubsanspruchs in der Fallkonstellation, dass es dem Arbeitnehmer infolge einer Langzeiterkrankung nicht möglich war, seinen Urlaubsanspruch, den er in einem Bezugszeitraum erwarb, in dessen Verlauf er tatsächlich arbeitete, in Anspruch zu nehmen. Laut BAG könne der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und 3 BUrlG grundsätzlich nur nach dem Übertragungszeitraums von 15 Monaten erlöschen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig in die Lage versetze, diesen Anspruch auszuüben.

Anfang 2023 entschied das BAG (9 AZR 456/20) im Gegensatz dazu, dass es für den Beginn der Verjährungsfrist des Urlaubsabgeltungsanspruch nicht auf die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten ankomme. Der Beendigungszeitpunkt des Arbeitsvertrages stelle zumindest im Hinblick auf die Mitwirkungsobliegenheit eine Zäsur dar.

2.4 Versetzung an ausländischen Arbeitsort

Im Rahmen einer Streitigkeit über die Wirksamkeit der Versetzung eines Arbeitnehmers ins Ausland entschied das BAG (5 AZR 336/21), dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer aufgrund seines Weisungsrechts nach § 106 S. 1 GewO auch einen Arbeitsplatz im Ausland zuweisen könne, wenn der oder die Arbeitsorte nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder gesetzliche Vorschriften auf das Inland begrenzt seien. Eine Beschränkung des Weisungsrechts auf Arbeitsorte in der Bundesrepublik Deutschland sei dem Arbeitsvertrag als solchem nicht immanent. Eine Zuweisung des Arbeitsplatzes im Ausland unterliege jedoch gemäß § 315 Abs. 1 BGB einer gerichtlichen Billigkeitskontrolle.

2.5 Abberufung von Datenschutzbeauftragten

Der EuGH hat in zwei ähnlich gelagerten Fällen zur Wirksamkeit der Abberufung von Datenschutzbeauftragten entschieden.

Im ersten Fall (C-453/21) wurde neben dem Amt des Datenschutzbeauftragten das des Betriebsratsvorsitzenden sowie das des stellvertretenden Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrats bekleidet. Im zweiten Fall (C-560/21) war der Datenschutzbeauftragte als Anwendungsberater ebenfalls mit der Datenverarbeitung befasst, die er zu überwachen hatte. Die Frage war jeweils, welche Maßstäbe an den Abberufungsgrund nach der DSG-VO anzulegen sind und ob ein Interessenkonflikt aufgrund einer Doppelfunktion eine sofortige Abberufung rechtfertigt.

Der EuGH urteilte, dass § 6 Abs. 4 S. 1 BDSG, wonach die Kündigung eines Datenschutzbeauftragten nur aus wichtigem Grund i.S.d.
§ 626 BGB erfolgen kann, im Einklang mit Art. 38 Abs. 3 S. 2 DSG-VO steht. Aus Sicht des EuGH stehe es jedem Mitgliedstaat frei, strengere Vorschriften für die Abberufung von Datenschutzbeauftragten vorzusehen, soweit diese mit den Bestimmungen der DSG-VO, insbesondere Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSG-VO, vereinbar seien. Demnach müsse beispielsweise die Abberufung eines Datenschutzbeauftragten möglich sein, der die erforderlichen beruflichen Eigenschaften nicht mehr besitze, um seine Aufgaben im Einklang mit der DSG-VO zu erfüllen, oder aufgrund eines Interessenkonfliktes seine Aufgaben nicht vollständig unabhängig wahrnehmen könne.

Das BAG hat in einer Pressemitteilung in beiden Fällen ebenfalls die Wirksamkeit der Abberufung bestätigt.  Ein Interessenkonflikt sei typischerweise anzunehmen, wenn die Position des betrieblichen Datenschutzbeauftragten durch eine Person bekleidet werde, die an anderer Stelle im Unternehmen über Festlegung von Zwecken und die Verarbeitung personenbezogener Daten (mit)entscheiden könne.

Ausblick

Wie 2023 wird auch das neue Jahr Entwicklungen im Arbeitsrecht mit sich bringen, die für die Praxis relevant sein werden. Einige dieser zukünftigen Entwicklungen lassen sich bereits erahnen, so etwa die Bestrebungen ein Beschäftigtendatenschutzgesetz und ein Bundestariftreuegesetz zu schaffen.