BAG überholt deutschen Gesetzgeber mit einer Pflicht zur Arbeitszeiterfassung

Das Bundesarbeitsgericht hat in einer Entscheidung vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21), für die bislang lediglich die Pressemitteilung vorliegt, entschieden, dass dem Betriebsrat kein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zusteht. Überraschend ist dabei jedoch die Begründung des Bundesarbeitsgerichts. Diesem zufolge könne ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung schon deshalb nicht bestehen, weil bereits eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers bestehe, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Damit statuiert das BAG eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, deren Einführung der EuGH eigentlich dem Gesetzgeber auferlegt hatte.

Worum geht es?

In dem zugrunde liegenden Verfahren stritten der Arbeitgeber und der Betriebsrat darum, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) zusteht.

Die Parteien hatten zunächst über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur elektronischen Zeiterfassung verhandelt. Da eine Einigung nicht erzielt werden konnte, verzichtete der Arbeitgeber auf die Einführung der elektronischen Zeiterfassung. Das sich daran anschließende Einigungsstellenverfahren wurde von einer rechtskräftigen Entscheidung über das Bestehen eines Initiativrechts des Betriebsrats abhängig gemacht.

Der entsprechende Feststellungsantrag des Betriebsrats wurde in erster Instanz von dem ArbG Minden mit Beschluss vom 15.09.2020 – 2 BV 8/20 mit der Begründung abgewiesen, dass dem Betriebsrat kein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zustehe. Auf die vom Betriebsrat eingelegte Beschwerde hin entschied das LAG Hamm hingegen mit Beschluss vom 27.07.2021 (7 TaBV 79/20), dass dem Betriebsrat sehr wohl ein solches Initiativrecht zukomme. Aufgrund der damit verbundenen Abweichung des LAG Hamm vom Beschluss des BAG vom 28.11.1989 (1 ABR 97/88), hatte es die Rechtsbeschwerde zum BAG zugelassen.

Was galt bislang?

In der Entscheidung des BAG aus dem Jahr 1989 verneinte es das Bestehen eines Initiativrechts des Betriebsrats im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Zwar bestehe grundsätzlich im Rahmen von § 87 Abs. 1 BetrVG ein Initiativrecht des Betriebsrats, allerdings werde es durch den Inhalt seines jeweiligen Mitbestimmungsrechts und dessen Sinn und Zweck begrenzt. Sinn des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen, sei es, Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich der Arbeitnehmer nur bei gleichberechtigter Mitbestimmung des Betriebsrats zuzulassen. Dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats komme daher eine Abwehrfunktion gegenüber der Einführung solcher technischer Kontrolleinrichtungen zu, deren Einführung als solche nicht verboten ist und deren Anwendung unter Berücksichtigung der Interessen der Arbeitnehmer auch sinnvoll und geboten sein kann. Dieser Zweckbestimmung des Mitbestimmungsrechts widerspreche es jedoch, wenn der Betriebsrat selbst – gleich aus welchen Gründen – die Einführung einer solchen technischen Kontrolleinrichtung verlange.

Was sagt das BAG nun?

In seiner aktuellen Entscheidung hat das BAG nun nicht mehr mit dem Sinn und Zweck des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG argumentiert, sondern bereits an anderer Stelle angesetzt und damit für einen regelrechten Paukenschlag gesorgt.

Nach Auffassung des BAG bestehe bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließe ein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus, da der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen habe, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht.

Das BAG stützt sich damit maßgeblich auf ein aufsehenerregendes Urteil des EuGH aus dem Jahr 2019, in dem dieser entschied, dass das europäische Arbeitszeitrecht verlange, Arbeitgeber nach nationalem Recht zu verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Eine entsprechende ausdrückliche gesetzliche Regelung gibt es bislang nicht; das deutsche Arbeitszeitrecht statuiert in § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG lediglich ausdrücklich eine Pflicht zur systematischen Erfassung von Überstunden, nicht aber für die gesamte Arbeitszeit.

Das BAG leitet eine solche Pflicht indes nun aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ab. Dieser Vorschrift zufolge ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Zur Planung und Durchführung dieser Maßnahmen hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten unter anderem für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen.

Was bedeutet die Entscheidung des BAG für die Praxis?

Die mit der Entscheidung des BAG verbundenen Auswirkungen auf die Praxis sind bereits jetzt als überaus weitreichend zu bewerten und bedeuten nach den bereits umfangreichen Änderungen des Nachweisgesetzes einen weiteren Rückschritt statt eine Annäherung an die Besonderheiten der modernen Arbeitswelt. Das gilt insbesondere im Hinblick auf flexible Arbeitszeitmodelle wie die Vertrauensarbeitszeit, die nach erster Einschätzung zukünftig nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich sein wird. Arbeitgeber sollten sich daher spätestens jetzt Gedanken über die Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung machen. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG in den Entscheidungsgründen Ausführungen zu der Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems machen wird, was unseres Erachtens jedoch nicht zu erwarten ist. Vor diesem Hintergrund wäre eine schnelle Reaktion des Gesetzgebers wünschenswert, um für Arbeitgeber hinsichtlich der Modalitäten der Zeiterfassung Klarheit zu schaffen.