EuGH (Urteil vom 16. Mai 2024 – C-706/22): Grundsätzlich keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens

Im Falle der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea – SE) ist gemäß Art. 12 Abs. 2 der SE-Verordnung (SE-VO), Art. 3-7 der Richtlinie 2001/86/EG (SE-RL) sowie den §§ 4 ff. des SE-Beteiligungsgesetzes (SEBG) zwingend ein Verhandlungsverfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer in einer SE – das sogenannte Beteiligungsverfahren – durchzuführen. Parteien dieses Verfahrens sind auf Arbeitgeberseite die zentrale Leitung der (künftigen) SE sowie ein besonderes Verhandlungsgremium (BVG); Letzteres setzt sich aus Vertretern der Arbeitnehmer in den EU-Mitgliedstaaten zusammen, in denen die SE (und ggf. ihre Tochtergesellschaften) Arbeitnehmer beschäftigen. Im Rahmen des Beteiligungsverfahrens können die Parteien die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der künftigen SE weitgehend frei aushandeln – eine wesentliche Besonderheit im Vergleich zu den „starren“ Vorschriften des Drittelbeteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes. Das Verhandlungsergebnis ist in einer sogenannten Beteiligungsvereinbarung niederzulegen, welche typischerweise die Errichtung eines SE-Betriebsrats vorsieht und unter anderem auch Regelungen zur unternehmerischen Mitbestimmung im Aufsichtsorgan der SE trifft. Die Regelbarkeit der unternehmerischen Mitbestimmung unterliegt hierbei gesetzlichen Einschränkungen, welche darauf abzielen, ein bei den SE-Gründungsgesellschaften etwaig bestehendes Mitbestimmungsniveau mindestens zu konservieren (sog. Vorher-Nachher-Prinzip). Das Beteiligungsverfahren ist sowohl nach den europäischen (SE-VO / SE-RL) als auch nach den nationalen (SEBG) Vorschriften auf den eigentlichen Gründungsvorgang zugeschnitten. Die Gründung ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens und eine Nachholung sind – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – hingegen nicht näher gesetzlich geregelt.

Worum ging es in der Entscheidung?

Im Jahr 2013 wurde eine arbeitnehmerlose Holding-SE nach britischem Recht gegründet und in das Register für England und Wales eingetragen. Ein Beteiligungsverfahren war hierbei aufgrund der Arbeitnehmerlosigkeit der Gesellschaft ausnahmsweise nicht durchzuführen. Anschließend wurde die SE Alleingesellschafterin einer deutschen GmbH, die anschließend in eine KG formgewechselt wurde. Die Holding-SE fungierte fortan sowohl als Kommanditistin der KG und hielt zudem sämtliche Anteile an deren Komplementärin. Die KG beschäftigte zu diesem Zeitpunkt ca. 816 Arbeitnehmer und hatte darüber hinaus mehrere Tochtergesellschaften mit EU-weit mehr als 2.000 Arbeitnehmern. 2017 wurde der Sitz der SE aufgrund des Brexit nach Deutschland verlegt. Einige Zeit später beantragte der Konzernbetriebsrat der KG vor dem ArbG Hamburg die Verpflichtung der SE zur Einleitung eines Beteiligungsverfahrens. Das ArbG Hamburg wies den Antrag des Konzernbetriebsrats ebenso wie in zweiter Instanz das LAG Hamburg ab.

Wie kam es zum Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH?

Anders als die Vorinstanzen gelangte das vom Kläger per Rechtsbeschwerde angerufene BAG zu der Auffassung, dass die Entscheidung im Ausgangspunkt davon abhänge, ob Art. 12 Abs. 2 SE-VO i.V.m. Art. 3-7 SE-RL eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens zu entnehmen sei. Das BAG setzte daraufhin das Verfahren aus und legte dem EuGH diese Frage (sowie weitere sich daraus ergebende Folgefragen) im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vor.

Wie entschied der EuGH im vorliegenden Fall?

Der EuGH (Urteil vom 16. Mai 2024 – C-706/22) hat eine generelle Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens in der vorliegenden Konstellation abgelehnt. Weder Art. 12 Abs. 2 SE-VO noch Art. 3-7 SE-RL könne eine solche entnommen werden. Die Vorschriften seien auf eine Durchführung vor Eintragung bzw. Gründung der SE zugeschnitten sind somit nicht auf eine bereits gegründete SE übertragbar. Auch die ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen zur Durchführung des Beteiligungsverfahrens nach erfolgter Gründung (wie z.B. die Wiederaufnahme von abgebrochenen Verhandlungen) können nicht herangezogen werden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Erwägungsgründen zur SE-RL zum Schutz der Arbeitnehmerbeteiligung und Mitbestimmung oder aus dem Vorher-Nachher-Prinzip. Zudem setzte sich der EuGH im Rahmen seiner Argumentation umfassend mit der Entstehungsgeschichte der SE-RL auseinander und hob ausdrücklich hervor, dass das Fehlen von Regelungen zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens kein gesetzgeberisches Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers sei. Dies ergebe sich vor allem daraus, dass Nachholpflichten bei der Ausarbeitung der Richtlinie explizit diskutiert, letztlich jedoch aus gewichtigen Gründen (u.a. im Interesse der Vorhersehbarkeit für Anteilseigner und Arbeitnehmer sowie aus Stabilitätserwägungen) ganz bewusst keinen Eingang in den Richtlinientext gefunden haben. Abschließend stellt der EuGH klar, dass eine Nachholung zumindest in Missbrauchsfällen geboten sein könne. Die weiteren Folgefragen wurden vom EuGH offengelassen, da sich diese erledigt hatten.

Welche Auswirkungen ergeben sich durch die Entscheidung des EuGH?

Zunächst dürfte davon auszugehen sein, dass das BAG die Rechtsbeschwerde des Konzernbetriebsrats gegen den Beschluss des LAG Hamburg zurückweist, sodass die zentrale Leitung der SE im vorliegenden Fall kein Beteiligungsverfahren einzuleiten hat.

Aber auch darüber hinaus dürfte die Entscheidung und insbesondere die zugrunde liegende Argumentation des EuGH erhebliche Auswirkungen auf zentrale Fragen des SE-Rechts haben. Zu denken ist hierbei vor allem an die Nachholung des Beteiligungsverfahrens bei der besonders praxisrelevanten Vorrats-SE, bei welcher die wohl herrschende Literatur bislang von einer Nachholpflicht bei sogenannter „wirtschaftlicher Aktivierung“ ausgeht. Begründet wird dies im Wesentlichen mit einer (behaupteten) unbewussten Regelungslücke und folglich einer analogen Heranziehung der auf den SE-Gründungsvorgang ausgelegten Vorschriften. Dies dürfte jedoch mit der vorliegenden Entscheidung bzw. Argumentation des EuGH kaum in Einklang zu bringen sein.

Auch das bislang in der Literatur höchst umstrittene Konstrukt der dauerhaft mitbestimmungsfreien SE rückt durch die Entscheidung des EuGH in den Bereich des Möglichen, was dem Rechtsanwender zusätzliche Flexibilität bei der Optimierung seiner Mitbestimmungsstrukturen einräumt.

Gleichwohl sollte nicht verkannt werden, dass sich der Schwerpunkt der Diskussion nunmehr auf die Frage verlagern dürfte, wo die Grenzen zum Rechtsmissbrauch zu ziehen sind, deren Überschreitung gleichwohl eine Nachholpflicht auslösen soll. Hierzu fehlt es – vor allem im Kontext des Beteiligungsverfahrens – nach wie vor an höchstrichterlicher Rechtsprechung.

Praxishinweis

Auch wenn die Entscheidung des EuGH die Gestaltungsspielräume mit Blick auf die Unternehmensmitbestimmung insgesamt erweitern dürfte, sollte sorgfältig geprüft werden, ob und inwieweit das der SE innewohnende Optimierungspotenzial im Konzerngeflecht sinnvoll genutzt werden kann. Dennoch sollte die Entscheidung des EuGH nicht als „Freifahrtschein“ verstanden werden, um sich etwaiger unliebsamer Mitbestimmungsstrukturen ohne weiteres zu entledigen, sondern es bedarf im Einzelfall einer sorgfältigen Analyse der Vorteile einer SE. Trotzdem ist die Entscheidung für die Gestaltungspraxis hochinteressant und wird die SE als europäische Rechtsform für EU-länderübergreifende Konzerne (und solche, die es werden wollen) noch attraktiver machen. Zudem bleibt mit Spannung abzuwarten, wie die Gerichte und gegebenenfalls der Gesetzgeber auf das wegweisende EuGH-Urteil reagieren werden.