Arbeits- und sozialrechtliche Vorhaben
Eine weitreichende Reform des Arbeitsrechtes ist im Koalitionsvertrag nicht enthalten. Jedoch zeichnet sich ein Trend zur längst überfälligen Flexibilisierung und Digitalisierung jedenfalls vereinzelter Regelungen, insbesondere bei der Arbeitszeit, den Schriftformerfordernissen, der Betriebsverfassung sowie der Feststellung des Beschäftigtenstatus, ab. Daneben soll durch steuerliche Privilegierung bestimmter Tätigkeiten dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Daneben hat auch der neue Koalitionsvertrag wieder das Ziel die Gewerkschaften durch Instrumente wie digitale Zugangsrechte sowie ein Tariftreuegesetz zu stärken.
Arbeitszeit und Arbeitszeiterfassung
Den Koalitionsparteien zufolge soll die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit eingeführt und die Arbeitszeiterfassung auf unbürokratische Weise geregelt werden, wobei Vertrauensarbeitszeit ohne Erfassung weiter möglich bleiben soll. Dabei setzten die Koalitionspartner auf eine elektronische Zeiterfassung und wollen für kleine sowie mittlere Unternehmen angemessene Übergangsregelungen schaffen (Zeilen 558 ff.).
Mit der Absicht, eine wöchentliche Höchstarbeitszeit anstelle der bislang geltenden täglichen Arbeitszeit von im Grundsatz acht Stunden einführen zu wollen, beschränken sich die Koalitionsparteien auf das absolute Minimum der Flexibilisierung, welches schon seit Jahren gefordert wird und längst überfällig ist, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten aufrechtzuerhalten. Zu hoffen ist, dass die Bundesregierung die darüber hinausgehenden Flexibilisierungsmöglichkeiten, die das europäische Recht bietet, prüft und bestenfalls ausschöpft, um den Bedürfnissen der modernen Arbeitswelt endlich gerecht zu werden.
Das Thema Arbeitszeiterfassung ist dagegen keine Frage des „ob“, sondern nur des „wie“. Bereits 2019 entschied der EuGH, dass die Arbeitgeber ein System einrichten müssen, damit die tägliche Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter genau erfasst werden kann. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits vor mehr als zwei Jahren entschieden, dass Arbeitgeber aufgrund einer europarechtskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG schon jetzt verpflichtet seien, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Ein daraufhin vom BMAS erarbeiteter Referentenentwurf hatte es nach lauter Kritik noch nicht einmal in die Ressortabstimmung geschafft.
Dass den Koalitionsparteien nun eine möglichst unbürokratische Regelung und eine Aussparung von Vertrauensarbeit vorschwebt, ist dem Grunde nach zu begrüßen. Insbesondere Letzteres wird jedoch eine sehr wohl überlegte und konturierte Regelung erfordern, um den europäischen Vorgaben gerecht zu werden.
Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes
Für die steigenden Herausforderungen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz in der Arbeitswelt sollen die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden, damit diese sozialpartnerschaftlich gelöst werden (Zeilen 577 ff.). Was sich hinter dieser sehr vagen Formulierung verbirgt, ist unklar. Möglicherweise kommt hierin die Intention der SPD; die Mitbestimmung insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz auszuweiten, zum Ausdruck. Zu hoffen ist jedoch insbesondere auf eine Reform des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, der die Modernisierung vieler Unternehmen durch technische Innovationen hemmt.
Das Betriebsverfassungsgesetz wird in jedem Falle selbst digitaler: Online-Betriebsratssitzungen, -Betriebsversammlungen und -Betriebsratswahlen sollen gesetzlich verankert werden (Zeilen 579 ff.). Anders als Betriebsversammlungen können Betriebsratssitzungen bereits heute unter strengen Voraussetzungen virtuell abgehalten werden. Es ist damit zu rechnen, dass die Hürden für virtuelle Betriebsratssitzungen zukünftig gesenkt und die Möglichkeit virtueller Betriebsversammlungen anknüpfend an die frühere Regelung während der Pandemie ergänzt wird. Online-Wahlen waren und sind bislang nicht zugelassen. Möglicherweise ergibt sich damit eine Neuerung schon für die bevorstehenden turnusmäßigen Betriebsratswahlen im kommenden Jahr.
Im Koalitionsvertrag unerwähnt, aber wünschenswert wäre zudem, dass auch Einigungsstellen virtuell durchgeführt werden können, wie es auch bereits während der Pandemie der Fall war. Die praktische Erfahrung zeigt, dass das Format einer virtuellen Einigungsstelle insbesondere bei weniger komplexen oder zeitkritischen Angelegenheiten sinnvoll ist und gut funktioniert.
Digitales Zugangsrecht von Gewerkschaften
Das Zugangsrecht der Gewerkschaften in den Betrieben soll um einen digitalen Zugang, der ihren analogen Rechten entspricht, ergänzt werden (Zeilen 582 f.). Wie genau ein solches digitales Zugangsrecht aussehen soll, lässt sich nur spekulieren. Denkbar ist eine an das Bundespersonalvertretungsgesetz angelehnte Regelung, welche den Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen einen Anspruch auf Verlinkung des Internetauftritts im Intranet gewährt. Ein Referentenentwurf zum Tariftreuegesetz der früheren Ampelkoalition sah demgegenüber lediglich vor, dass den Beauftragten einer Gewerkschaft Zugang zum Betrieb einschließlich der im Betrieb zur Kommunikation verwendeten Informations- und Telekommunikationstechnologien gewährt werden soll. In Bezug auf eine Verpflichtung zur Herausgabe dienstlicher E-Mail-Adressen, wie es ebenfalls möglich wäre, dürfte unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten problematisch sein. Ein solches Recht hatte das Bundesarbeitsgericht im Übrigen zuletzt auf Basis der derzeitigen gesetzlichen Lage noch abgelehnt.
Teilzeit- und Befristungsgesetz
Die Koalitionspartner planen mit Blick auf den anhaltenden Fachkräftemangel Arbeitnehmern eine Rückkehr zum bzw. ein Weiterarbeiten beim bisherigen Arbeitgeber nach Erreichen der Regelaltersgrenze durch Aufhebung des Vorbeschäftigungsverbots zu ermöglichen (Zeilen 614 ff.). Denn derzeit ist nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG eine sachgrundlose Befristung nicht zulässig, wenn bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien bestanden hat. Einen ähnlichen Vorstoß gab es bereits im Herbst letzten Jahres als die (Ampel-)Regierung eine Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Regierungsparteien erstellte, der es Arbeitnehmern erleichtern sollte, nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze einen befristeten Arbeitsvertrag mit dem bisherigen Arbeitgeber zu schließen. Dass die Einschränkung des Vorbeschäftigungsverbots kein neuer Vorstoß ist, ergibt sich bereits daraus, dass die Äußerungen im Koalitionsvertrag erkennbar auf dieser Formulierungshilfe basieren. Daher kann auch davon ausgegangen werden, dass die neue Bundesregierung an diese Formulierungshilfe anknüpfen wird. Die Forderung der SPD aus dem Wahlkampf, die sachgrundlose Befristung gänzlich abzuschaffen, findet sich im Koalitionsvertrag hingegen nicht wieder.
Mehrarbeit, Aktivrente und weitere steuerliche Begünstigungen
Der Koalitionsvertrag setzt einige finanzielle Anreize aus arbeitsrechtlicher Perspektive. Er sieht vor, dass das Gehalt von Arbeitnehmern, die nach Erreichen der Regelaltersgrenze freiwillig weiterarbeiten (sogenannte „Aktivrente“), in Höhe von bis zu EUR 2.000 im Monat steuerfrei bleibt (Zeilen 610 ff.; 1470 ff.).
Darüber hinaus ist geplant, Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte beziehungsweise an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuerfrei zu stellen. Als Vollzeitarbeit soll dabei für tarifliche Regelungen eine Wochenarbeitszeit von mindestens 34 Stunden, für nicht tariflich festgelegte oder vereinbarte Arbeitszeiten von 40 Stunden gelten (Zeilen 1466 ff.). Auch wenn dieser Anreiz zur Leistung von Mehrarbeit grundsätzlich begrüßenswert ist, stellt sich aus arbeitsrechtlicher Sicht die nicht unbeachtliche Folgefrage, auf welcher Grundlage ausschließlich Vollzeitarbeitnehmer privilegiert werden sollen. Denn das Bundesarbeitsgericht entschied jüngst (Urteil vom 5. Dezember 2024 - 8 AZR 370/20) nach Vorlage an den EuGH, dass eine tarifvertragliche Regelung, die unabhängig von der individuellen Arbeitszeit für Überstundenzuschläge das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten voraussetzt, einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter darstellt, wenn dies nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass die angekündigte steuerliche Privilegierung von Vollzeitarbeitnehmern gegenüber Teilzeitarbeitnehmern im Lichte des Diskriminierungsverbotes von Teilzeitarbeitnehmern, welches nicht nur im nationalen, sondern auch europäischen Recht verankert ist, einer erneuten Prüfung unterzogen werden und gegebenenfalls dahingehend abgeändert werden muss, auch Teilzeitarbeitnehmer zu erfassen.
Mindestlohn
Der gesetzliche Mindestlohn beträgt seit dem 1. Januar 2025 EUR 12,82 pro Stunde. Die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags bieten diesbezüglich keine Neuerungen. Denn sie halten lediglich fest, dass sich die Mindestlohnkommission hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Mindestlohns im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren wird und so ein Mindestlohn von EUR 15 pro Stunde im Jahr 2026 erreichbar sei (Zeilen 544 ff.). Dieses Vorgehen entspricht jedoch bereits dem status quo. Die Mindestlohnkommission schlägt (nach einmaliger Erhöhung im Jahr 2022) seither wieder etwaige Anpassungen vor, die von der Bundesregierung durch Rechtsverordnung übernommen werden können. Hierbei ist die Mindestlohnkommission gesetzlich verpflichtet, sich an der Tarifentwicklung zu orientieren. Seit 2025 sieht die Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission zudem auch eine Orientierung am Wert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten entsprechend der EU-Mindestlohn-Richtlinie vor. Die Regelung im Koalitionsvertrag gibt mithin lediglich eine Erwartungshaltung der Koalitionsparteien wieder, ohne dass weitere Eingriffe in die Tarifautonomie durch gesetzliche Anhebung des Mindestlohns zu befürchten sind.
Bundestariftreuegesetz
Erklärtes Ziel der geplanten Koalition ist eine höhere Tarifbindung der Unternehmen, die im Wettbewerb um öffentliche Aufträge und Konzessionen des Bundes stehen (Zeilen 552 ff.). Der Regierungsentwurf der vergangenen Koalition aus November 2024 sah vor, dass die Gewährung bestimmter tarifvertraglicher Arbeitsbedingungen, insbesondere die Bezahlung der Arbeitnehmer, nach einem repräsentativen Tarifvertrag der jeweiligen Branche, Voraussetzung für die Vergabe öffentliche Aufträge sein sollte.
Es ist zu erwarten, dass das neue Vorhaben nach dem Vorbild des vergangenen Regierungsentwurfs umgesetzt wird, vor allem vor dem Hintergrund, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales weiterhin unter der Leitung der SPD bleiben soll. Änderungen dürften jedoch mit Blick auf die Auftrags- oder Vertragswerte zu erwarten sein, die zukünftig einheitlich bei 50.000 EUR bzw. lediglich in Bezug auf Start-ups innerhalb der ersten vier Jahre bei 100.000 EUR liegen soll.
Feststellung des Beschäftigungsstatus
Gerade bei der Anstellung von Freelancern und Beratern besteht aufgrund der zunehmend rigideren Prüfungen durch die Rentenversicherung Bund sowie teilweise abweichenden Anforderungen zwischen der arbeits- und sozialgerichtlichen Rechtsprechung eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Angesichts der erheblichen Sanktionen, mit denen die Anstellung von Scheinselbständigen belegt ist, ist dies höchst problematisch. Das derzeit bereits im Gesetz vorgesehene Statusfeststellungsverfahren ist, insbesondere aufgrund seiner langen Dauer von durchschnittlich 3 Monaten, der nicht immer eindeutigen Anforderungen der Sozialversicherungsträger sowie seiner Begrenzung auf das Sozialversicherungsrecht nur bedingt geeignet, die sich bei der Anstellung von Selbständigen regelmäßig stellenden Unwägbarkeiten zu beheben. Der Koalitionsvertrag sieht daher eine Reform des Statusfeststellungsverfahrens vor, mit welcher dieses „schneller, rechtssicherer und transparenter“ werden soll.
Betriebliche Altersversorgung
Wenig konkret äußert sich der Koalitionsvertrag zur betrieblichen Altersversorgung. Diese soll digitaler, einfacher, weniger bürokratisch und transparenter werden. Zudem soll die Portabilität bei einem Arbeitgeberwechsel erhöht werden. Was diese Absichtserklärungen konkret bedeuten, bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre es die Einführung von reinen Beitragszusagen zu vereinfachen und nicht weiter allein von der Bereitschaft der Sozialpartner abhängig zu machen. Ebenfalls wäre es für die Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung hilfreich, die hiermit einhergehenden Risiken für Arbeitgeber zu reduzieren und insbesondere die Harmonisierung, Änderungen und Übertragung von Versorgungszusagen zu vereinfachen.
Sonstiges
Im Übrigen beabsichtigen die Koalitionsparteien die Zivilprozessordnung der Digitalisierung anzupassen, wodurch beispielsweise die Nutzung digitaler Beweismittel und Online-Verfahren ermöglicht werden sollen (Zeilen 2032 ff.). Ebenfalls geplant ist, die gesetzlichen Schriftformerfordernisse im Arbeitsrecht, z.B. im Befristungsrecht, zu reduzieren (Zeilen 339 f.). Bis Ende 2025 sollen zudem Verpflichtungen zur Bestellung von Betriebsbeauftragten, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, abgeschafft, und der Schulungs-, Weiterbildungs- und Dokumentationsaufwand reduziert werden (Zeilen 1905 ff.). Die Koalitionsparteien beabsichtigen ferner, das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz abzuschaffen (vgl. hierzu im Einzelnen den Beitrag zu ESG-Management).
Gänzlich unerwähnt bleiben im Koalitionsvertrag die Entgelttransparenzrichtlinie und die Plattformarbeitsrichtlinie, die bis 2026 ins nationale Recht umgesetzt werden sollen.