Kollektiver Rechtsschutz
(Stand: 7.7.2023)
Der kollektive Rechtsschutz ist in Bewegung: In Deutschland hat die Große Koalition 2018 die Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage durch die Gesetzgebungsorgane gepeitscht, die ersten Verfahren laufen bzw. sind teilweise bereits beendet. Zudem ist nun die EU-Verbraucherverbandsklagenrichtlinie umzusetzen, die die EU-Mitgliedstaaten zur Einführung kollektiver Rechtsschutzinstrumente verpflichtet, die weit über das bisher in Deutschland Bekannte hinausgehen.
Die Musterfeststellungsklage
In Deutschland wurde der kollektive Rechtsschutz traditionell kritisch gesehen, auch vor dem Hintergrund von Befürchtungen, es könne zu amerikanischen Verhältnissen („class actions") kommen. Vor allem mit Blick auf den Dieselskandal änderte sich die Position in weiten Teilen der deutschen Politik. Ziele sind die Verbesserung des Verbraucherschutzes und die Entlastung der Justiz. Bereits im Koalitionsvertrag hatten die Regierungsparteien angekündigt, bis Ende 2018 Musterfeststellungsklagen einzuführen. Diesen Plan setzte die Große Koalition im Eiltempo in die Tat um: Das „Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage“ wurde am 17.7.2018 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und ist am 1.11.2018 in Kraft getreten.
Seitdem sind in Deutschland bestimmte qualifizierte Einrichtungen berechtigt, eine Musterfeststellungsklage mit dem Ziel zu erheben, das (Nicht-) Vorliegen von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das (Nicht-) Bestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer festzustellen. Das Gericht soll dann verbindlich über Streitfragen entscheiden, die nicht in Einzelprozessen individuell geklärt werden müssen. Den Rechtsstreit zu Ende führen müssen die Betroffenen allerdings selbst, sofern es nicht durch die Musterfeststellung bereits zu einem Vergleich kommt. Erste Klageverfahren sind zwischenzeitlich beendet.
Die EU-Verbraucherverbandsklagenrichtlinie und ihre Umsetzung in Deutschland
Auch die Europäische Union stellte bereits seit längerem Überlegungen zum kollektiven Rechtsschutz an. Nachdem verschiedene unverbindliche Initiativen weitgehend wirkungslos geblieben sind und die EU sich durch den Dieselskandal zum Handeln gezwungen sah, wurde Ende 2020 die EU-Verbraucherverbandsklagenrichtlinie verabschiedet. Mit der neuen Richtlinie (EU) 2020/1828 werden die Mitgliedstaaten zur Einführung von Verbandsklagen verpflichtet, die bei Verstößen gegen bestimmte verbraucherschützende Rechtsakte von so genannten qualifizierten Einrichtungen wie Verbraucherverbänden stellvertretend für Geschädigte erhoben werden können, etwa um Unterlassungsverfügungen, Abhilfemaßnahmen oder Schadensersatz durchzusetzen. Die Richtlinie räumt den qualifizierten Einrichtungen also weitreichende Klagebefugnisse ein und unterscheidet sich daher wesentlich von der deutschen Musterfeststellungsklage, die lediglich zur Feststellung eines Rechtsverhältnisses führt und in deren Anschluss der einzelne Verbraucher seinen Anspruch im Individualverfahren durchsetzen muss. Die EU-Verbandsklage unterscheidet sich aber nicht nur hinsichtlich des Grundkonzepts, sondern auch in weiteren Details von der deutschen Musterfeststellungsklage (Näheres hierzu in unserem Alert).
Nach den Vorgaben der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten bis zum 25.12.2022 Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, und haben weitere 6 Monate, um die neuen Vorschriften anzuwenden. Die Umsetzung der Richtlinie erfolgte lediglich in drei Mitgliedstaaten fristgerecht (vgl. unseren Implementation Tracker) und die Kommission hat dementsprechend gegen die weiteren Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet (Näheres in unserem Blog Post). Auch Deutschland gehört zu letzteren.
Der Referentenentwurf des deutschen Justizministeriums vom Februar 2023 orientierte sich überwiegend an den Minimalvorgaben der Richtlinie und sah ein neues Stammgesetz vor, das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz, in welches die derzeit in der ZPO geregelte Musterfeststellungsklage integriert werden soll (Näheres hierzu in unserem Blog Post). Dieser Ansatz wurde im Regierungsentwurf vom 29.3.2023 weiterverfolgt, der allerdings zugunsten der Verbraucher in einigen Punkten vom Referentenentwurf abweicht (Näheres hierzu in unserem Blog Post). Die vom Bundestag am 7.7.2023 verabschiedete Fassung sieht weitere Änderungen im Sinne der Verbraucher vor (Näheres hierzu in unserem Blog Post).
Ausblick
Die der Umsetzung der EU-Richtlinie dienende Abhilfeklage stellt ein Novum im deutschen Recht dar, ist aber durch die Richtlinie vorgegeben und kommt daher nicht überraschend. Der Bundesrat wird sich nach der Sommerpause im September mit dem Gesetzentwurf befassen, so dass die neuen Regeln frühestens im Oktober in Kraft treten werden. Unternehmen sollten sich jedoch schon jetzt mit dem kommenden kollektiven Rechtsschutzsystem vertraut machen, dessen wichtigste Eckpunkte bereits feststehen. Die neue Regelung bedeutet, dass Unternehmen selbst bei geringfügigen Rechtsverstößen und damit verbundenen Schäden aufgrund der möglicherweise großen Zahl der betroffenen Verbraucher mit massiven finanziellen Verpflichtungen rechnen müssen. Der Bundestag rechnet zwar nur mit 15 Abhilfeklagen pro Jahr, doch könnte die tatsächliche Zahl angesichts des großen Interesses, das Verbraucherverbände und andere qualifizierte Einrichtungen während des Gesetzgebungsverfahrens gezeigt haben, und der verbraucherfreundlichen Änderungen, die im Laufe des Gesetzgebungsvorgangs vorgenommen wurden, deutlich höher liegen.
Weitere Informationen zu der Verbraucherverbandsklagerichtlinie und deren Umsetzung ins deutsche Recht können Sie unserer Gesetzesvorhabenseite im Knowledge Portal entnehmen, die – auch im Hinblick auf die Umsetzung der Richtlinie ins deutsche Recht – fortlaufend aktualisiert wird.
In unserem Implementation Tracker informieren wir Sie laufend über die Umsetzung der Richtlinie in ausgewählten Jurisdiktionen. Besuchen Sie auch unseren globalen Hub zum kollektiven Rechtsschutz.